Was ist regenerativer Tourismus? Eine Einführung

Martin Hohn
14 min readNov 29, 2021

Ist Regeneration ein neuer Trend-Begriff, der nächstes Jahr schon wieder vergessen ist oder steckt mehr dahinter? Im Englischen Sprachgebrauch erfreut sich das Wort seit einiger Zeit steigender Beliebtheit. Es wird oft im Zusammenhang mit Nachhaltigkeit verwendet und bezieht sich meistens auf das Ökosystem. Laut Definition bedeutet Regeneration ´Wiedererzeugung´ und ihr Gegenteil ist die Degeneration, ein Abbau z.B. von Zellen oder Verbindungen in einem lebenden System. Regenerative Vorgänge sind in diesem Sinne also Aktivitäten und Tätigkeiten, bei denen Neues entsteht und Beschädigtes wiederhergestellt wird.

Ein Hinweis jedoch vorweg; ´Regeneration´ ist kein Wundermittel und auch kein ´Quick-fix´, sie zeigt aber die Notwendigkeit auf, Zivilisationsschäden in der Natur und Umwelt wiedergutzumachen. Es folgt eine Einleitung über die gesellschaftspolitische Problematik in der Nachhaltigkeitsdebatte, damit das Thema entsprechend eingeordnet werden kann. Im zweiten Teil wird dann das Lösungspotential der Regeneration und ihre Anwendung im Tourismus besprochen.

Ist Nachhaltigkeit regenerativ?

Grundsätzlich kann man bei der Regeneration von einem Ansatz sprechen; zudem bestehen entscheidende Unterschiede zum Begriff ´Nachhaltigkeit´. Im klassischen Verständnis der Nachhaltigkeit wird versucht, die für das Ökosystem schädlichen Einflüsse der menschlichen Aktivität möglichst zu reduzieren. Das Ziel ist, ein Level von Netto-Null-Emissionen[1] zu erreichen, das uns erlauben würde, auf dem gleichen Niveau weiter zu wirtschaften wie bis anhin, ohne aber zusätzlichen Schaden anzurichten. Leider ist die globale Gesellschaft noch weit von einer konsequenten Umsetzung dieses Ziels entfernt. Zudem ist der Zeithorizont, den sich die meisten hauptverantwortlichen Staaten für das Erreichen dieses Ziel gesetzt haben, mit 2050 (USA) und vor allem 2060 (China & Russland) sowie Indien erst 2070 deutlich zu lange. Der CO2-Ausstoss und die daraus resultierende Erderwärmung ist ein Thema in der Umweltdebatte, das andere Thema ist der Ressourcenverbrauch. Wenn in Betracht gezogen wird, dass die globale Gesellschaft momentan einen Fussabdruck von 1.7 Planeten hat (also in einem Jahr 70% zu viel Ressourcen verbraucht), wird einem schnell klar, dass ein Status quo in unserem Verhalten nicht tragbar sein kann. Der bis in dreissig, vierzig oder noch mehr Jahren angerichtete Schaden wird zu gross sein.

Zu einem gewissen Grad könnte behauptet werden, dass die Nachhaltigkeit in ihrer politischen Umsetzung teilweise Augenwischerei ist, da sie die grundsätzliche Inkongruenz von stetigen Wachstumszielen und dem nachhaltigen Schutz des Ökosystems zu ignorieren scheint. Wirtschaftliches Wachstum basiert immer auf einer quantitativen Zunahme von Konsum, der unausweichlich immer zu Lasten der Natur geht. Mit dem regenerativen Ansatz hingegen wird ein Netto-Positiv Ziel angestrebt, der also schon entstandene Schaden soll wiedergutgemacht werden. Das motiviert auch aus psychologischer Sicht deutlich stärker als ein Ziel mit einer Null. Vor allem aber muss der Weg zum Ziel motivieren und der wird in der gegenwärtigen Umweltdebatte zu oft mit Verzicht gleichgesetzt. Ein regenerativer Weg soll jedoch zu neuen Ansätzen inspirieren und den Status quo auf eine positive Art herausfordern.

Hindernisse auf dem Weg zur Nachhaltigkeit

Man fragt sich natürlich sofort, wie das denn möglich sein soll? Wenn wir uns nur schon als Individuen so schwer tun mit einfachsten Verhaltensänderungen, wie soll es dann die gesamte Gesellschaft schaffen, ein auch nur annähernd nachhaltiges Verhalten, sowie kohärente Massnahmen zum Erreichen dieser Ziele umzusetzen? Denn momentan scheinen die Ziele der UN Agenda 2030 in schier unerreichbarer Ferne[2].

Wie beim COP26-Gipfel, der UN-Klimakonferenz in Glasgow, wieder offensichtlich wurde, ist es der internationalen Staatengemeinschaft nicht möglich, entschiedene und verbindliche Entscheidungen zu treffen. Dies hat viel Gründe, welche im kulturellen und gesellschaftlichen Kontext der verschiedenen Länder sowie deren Wertvorstellungen zu finden sind.

Zudem sind geopolitische Eigeninteressen und wirtschaftliche Machtstrukturen zu dominant, als dass ein Land so einfach den Kurs wechseln könnte. Ein weiterer Grund lässt sich auch in der Psychologie finden und ist unter dem Begriff ´kognitive Dissoziation´[3] oder im Volksmund als ´Vogel-Strauss-Politik´ bekannt. Wenn also eine Tatsache, in diesem Falle die Umweltzerstörung und ihre wahrscheinlich fatalen Folgen, nicht akzeptabel ist, da sie das eigene Weltbild angreift, ignoriert man sie schlicht und einfach. Zu einem gewissen Grad ist das auch verständlich, denn das Weltbild, das hier angegriffen wird, ist das erfolgreiche Wohlstandsmodell des Kapitalismus, welches der Welt so viel Aufschwung gebracht hat. Wie kann es sein, dass uns dieses System jetzt ins Verderben stürzen soll?

Dass materielles Wachstum nicht unendlich sein kann, da die benötigten Ressourcen endlich sind, ist einleuchtend und einfach nachvollziehbar; doch die Konsequenzen dieser fehlerhaften Gleichung sind relativ einschneidend. Um es auf den Punkt zu bringen, wir stecken in einem System fest, das mit unserer Hilfe zu viel konsumiert und dadurch unsere Lebensgrundlage zerstört. Gleichzeitig macht sich das ohnmächtige Gefühl in uns breit, als Individuen nicht genug verändern oder wirkungsvoll beeinflussen zu können. Einerseits weil wir befürchten, dass unser Wohlstand gefährdet würde, andererseits, weil sich ein System, das über Jahrhunderte entstanden ist, nicht so rasch umkrempeln lässt.

Und hier kommen wir wieder zur Regeneration zurück. Im Gegensatz zur Nachhaltigkeit basiert der regenerative Ansatz unter anderem auf, nennen wir es systemkritischen, Grundsätzen und Fragestellungen. Es wird ein Umdenken vorgeschlagen, das zu mehr Lebensqualität führen soll, indem es uns neue Perspektiven aufzeigt.

Lösungen

In der gängigen Klimadebatte wird relativ wenig auf die dritte Lösungsmöglichkeit der CO2-Problematik hingewiesen. Als erstes soll der Ausstoss reduziert werden, darum dreht sich der Grossteil der Diskussion. Zweitens müssten die noch im Boden gebundenen CO2-Anteile genau dort bleiben, wo sie sind, also im Boden. Auch dieser Zustand ist jedoch gefährdet, wenn zum Beispiel die gefrorene Tundra auftaut und gigantische Mengen an CO2 freisetzt, die dort seit Jahrtausenden gelagert sind. Und dann gibt es aber auch die Möglichkeit, proaktiv und ganz natürlich, grosse Mengen an CO2 in der Atmosphäre zu binden; dies wäre dann der regenerative Weg. Das kann durch den Schutz von existierenden Ökosystemen (Regenwald, Sumpflandschaften) getan werden, jedoch auch, indem gezielt gewisse Pflanzenarten (Seegräser, Algenfarne) kultiviert und wieder angesiedelt werden[4]. Natürlich kann die Kohlestoffbindung auch industriell erfolgen und zu einem lukrativen Geschäftszweig werden.

Jedoch sollte man die Verheissung der technologischen Innovation, welche alle unsere Umweltprobleme mit revolutionären Erfindungen lösen wird, nicht überschätzen. Es wäre wohl ratsamer, parallel an disruptiven, technologischen Lösungen zu forschen und gleichzeitig anzufangen, die Funktionsweise des bestehenden Systems zu überdenken und zu verändern.

Wir sollten dabei auch nicht vergessen, dass technologische Innovation nicht automatisch zu einem besseren Leben führt. Das zeigt uns das Beispiel der ersten Welle der digitalen Revolution mit Computern, Internet und Smartphones. Hier lautete das grosse Versprechen, dass wir mit diesen Erneuerungen an Lebensqualität gewinnen werden, dank massiven Effizienzsteigerungen und somit Zeitersparnissen bei der Arbeit und im Alltag. Eingetreten ist jedoch das Gegenteil: Wir haben heute weniger Zeit denn je, weil wir jetzt viel produktiver sind und damit mehr und vor allem schneller leisten können.

Es liegt in der menschlichen Natur, sich entwickeln zu wollen und alle gegebenen Möglichkeiten auszuschöpfen. Somit können wir uns ja fast keinen Vorwurf machen, wenn wir der Versuchung der digitalen Gadgets erliegen. Allerdings erreichen wir jetzt einen Punkt in der Geschichte, an dem uns die Geschwindigkeit und der Druck zunehmend krank und unglücklich machen. Die Statistiken zu Burn-out, Depressionen, Angstzuständen und schweren Zivilisationskrankheiten sprechen hier eine allzu deutliche Sprache.

Darum hier der Appell zu einer Abkehr vom immer schneller und immer mehr, denn damit ist in unseren westlichen Industrieländern kaum mehr eine Steigerung des Wohlstandes möglich. Die Steigerung, oder besser gesagt Weiterentwicklung unseres Gesellschaftsmodells, muss in einer neuen Lebensqualität liegen, wo wir Erfolg und Wohlstand neu definieren können, unabhängig von Wachstumszwang und Effizienzsteigerung.

Und genau hierzu liefert uns die regenerative Denkweise nützliche Hilfestellungen, denn die Grundsätze der Regeneration können uns beim Übergang zu einem neuen Gesellschaftsbewusstsein helfen.

Was Regeneration bedeutet

Diese ausführliche Einführung soll einige der Herausforderungen unseres Gesellschaftssystems aufzeigen, welche es uns erschweren, aus dessen selbstzerstörerischen Dynamiken auszubrechen. Nun wollen wir uns aber die Bedeutung des regenerativen Ansatzes anschauen und dann in einem nächsten Schritt die Bedeutung für den Tourismus und seine verwandten Branchen betrachten.

Fangen wir mit einigen Schlüsselcharakteristiken der Regeneration an, vergessen dabei aber die Warnung in der Einleitung nicht. Wenn die Herausforderungen unserer Zeit so leicht zu lösen wären, dann hätte man es schon lange getan. Somit passt an diese Stelle kein besseres Zitat, als dieses angeblich von Einstein stammende: ´Probleme können niemals mit derselben Denkweise gelöst werden, durch die sie entstanden sind´. Genau das scheint sich in der heutigen Zeit immer mehr zu bewahrheiten und darum schauen wir uns jetzt an, was denn eine regenerative Denkweise genau ausmacht und wie sie hilft, unzeitgemässe Denkmuster zu verändern.

  • Im Zentrum des regenerativen Verständnisses steht eine ganzheitliche und systemische[5] Weltanschauung. Unter Weltanschauung wird die Gesamtheit der persönlichen Werte, Vorstellungen und Sichtweisen verstanden, die unsere Wahrnehmung der Realität definieren. Diese bestimmen unsere Deutung der Welt, die Rolle, die wir darin spielen, sowie unsere Sicht auf die Gesellschaft und teilweise auch den Sinn des Lebens. Unsere individuelle und kollektive Weltanschauung wird geprägt durch unsere Werte, Kultur, Erziehung, Bildung und alle Erfahrungen, die wir im Laufe unseres Lebens machen. Das heisst auch, dass sich die Weltanschauung mit der Entwicklung der Gesellschaft laufend verändert. Besonders tiefgreifende Veränderungen in der neueren Menschheitsgeschichte waren die Renaissance um das 15. Jahrhundert und die Aufklärung um das 18. Jahrhundert. Vor allem die Veränderungen der Aufklärung bestimmen noch heute unsere rationelle und mechanische Denkweise, deren Auswirkungen man jetzt vor allem in der Entfremdung von Mensch und Natur beobachten kann. Noch unsere Ur-Grosseltern lebten viel mehr im Einklang mit der Natur, da sie dieser noch stärker ausgesetzt und vor allem in der Nahrungsversorgung von ihr abhängig waren.

Da wir diese Abhängigkeit in den westlichen Ländern dank der industriellen Lebensmittelindustrie überwunden haben, bestimmt und kontrolliert der Mensch die Natur immer mehr. Im Zuge dessen haben wir vergessen, dass wir integraler Teil der Natur und ihres komplexen Ökosystems sind.

Am Rande des COP26-Klimagipfels wurde die Glasgower Erklärung für Klimaschutzaktivitäten im Tourismus verabschiedet. In deren Einleitung werden die Wichtigkeit der Beziehung von Mensch und Natur sowie die Regeneration der Ökosysteme im Aktionsplan explizit erwähnt[6].

In Anbetracht der rasanten Veränderungen der letzten Jahrzehnte sagen viele Fachpersonen, dass wir jetzt wieder am Anfang einer neuen Epoche stehen, die mit der Aufklärung vergleichbar ist. In der Aufklärung hat sich über einen Zeitraum von gut einem Jahrhundert eine neue Denkweise und Weltanschauung etabliert. Der aktuelle Epochenwandel wird nicht nur von den Auswirkungen der Digitalisierung geprägt sein, sprich beschleunigt werden, sondern auch von einer interdisziplinären, systemischen Betrachtungsweise der Funktionsweise unserer Welt.

Da sich systemisches Denken, im Gegensatz zum heute dominanten analytischen, oder linearen Denken (das stark auf Einzelteile fokussiert), mehr auf die Gesamtzusammenhänge und Wechselwirkungen bezieht, besteht die Hoffnung, dass wir wieder zu einem verträglichen Umgang mit der Umwelt zurückfinden.

  • Eine regenerative Denkweise lädt uns ein, hoffnungsvolle Szenarien der Zukunft zu zeichnen. Auch wenn diese vielleicht utopisch erscheinen, so motivieren sie doch deutlich mehr als die Schreckensszenarien, die heute oft im Rahmen der Klimadebatte beschworen werden. Wir sind also eingeladen zu träumen und Fragen zu stellen: Fragen zu unserer Zukunft, wie wir leben wollen, was uns wirklich am Herzen liegt und was wir gerne verändern würden. Auf diese Fragen braucht es aber keine abschliessende Antwort, denn es ist wichtig, auch über längere Zeit mit einer Frage leben zu können und quasi die Ungewissheit als Bereicherung zu empfinden.
  • Der regenerative Ansatz kann als Einladung zu einer tiefgreifenden Veränderung verstanden werden, welche uns auffordert, anders zu denken, Neues zu lernen, aber dabei auch Freude zu empfinden. Veränderung lässt sich besser meistern mit einer Portion Leichtigkeit und Humor; sie benötigt gleichzeitig auch Mut. Die Veränderung fängt dabei bei uns selber an. Es ist quasi ein inneres Change-Management das man anstösst, welches sich dann auf das Aussen, sprich das berufliche Umfeld, überträgt.
  • Der regenerative Ansatz verkörpert eine Denkweise, welche überraschende Lösungsansätze fördern kann, jedoch keine universellen Standardlösungen bietet. Es ist eine Entwicklung weg von ´Best Practice´ hin zu ´Better Practice´. Das bedeutet, dass Prozesse flexibler und dynamischer werden müssen und somit standardisierte Abläufe in vielen Bereichen ablösen werden. Dies ist schwierig zu akzeptieren in einer Gesellschaft, wo schnelle und vor allem planbare Lösungen mit einem vorhersehbaren Resultat bevorzugt werden. Regenerative Lösungen zeichnen sich auch durch ihre Anpassung an den lokalen Kontext aus und dadurch, dass sie die Komplexität verschiedener Perspektiven miteinbeziehen. Man versucht folglich, immer mit dem örtlichen Potential zu arbeiten und eine Diversität an Ansichten zu berücksichtigen: Die kollektive Intelligenz ist der zentralisierten und hierarchischen Entscheidungsfindung meistens überlegen. Es ist also eine Einladung, sich auf ein Experiment einzulassen, zu versuchen, aus angestammten Verhaltensmustern auszubrechen und neue Wege zu beschreiten.
  • Kollaboration ist ein weiterer Grundstein des regenerativen Erfolgs. Komplexität kann gemeinsam besser begegnet werden; man wird resilienter, sprich widerstandsfähiger gegenüber einschneidenden Marktveränderungen. Vor allem in einer vielschichtigen Industrie wie dem Tourismus sind gute Beziehungen in der Horizontalen (unter Mitbewerbern) und Vertikalen (mit Lieferanten, Wiederverkäufern) in Zukunft überlebenswichtig. Gemeinsames Handeln bietet mehr Möglichkeiten, um Neues auszuprobieren. In einer schnelllebigen Welt ist es effektiver, eine Idee zu testen und zu schauen, was passiert, als lange und sorgfältig zu planen. Nicht nur in der Start-up- und Tech-Industrie ist das ´Rapid Prototyping´ schon lange ein Begriff. Dabei ist es aber sehr wichtig, offen zu bleiben für unerwartete Erkenntnisse oder auch unangenehme Feedbacks. Oft werden bei zu ausführlichem Planen, oder wenn ein Ziel zu genau vordefiniert ist, potentiell spannende Überraschungen ausgeschlossen.
  • Damit Kollaboration auch effizient funktioniert, braucht es einen transparenten und offenen Austausch von Informationen und Daten. Dazu liefert uns die Technologie heutzutage nützliche Tools. Wieso also nicht auch hier Lösungen schaffen, von denen alle profitieren können? Trotz der digitalen Möglichkeiten ist in einer regenerativen Arbeitsweise der persönliche Austausch nicht zu ersetzen, vor allem, wenn partizipative Formate genutzt werden, bei denen alle Stimmen Gehör finden. Werden Projekt- oder Gruppenprozesse partizipativ organisiert ist vielleicht der anfängliche Aufwand grösser, jedoch ist das Erlebnis für alle Teilnehmenden viel befriedigender und die Resultate werden dann eher von allen mitgetragen und langfristig unterstützt.

Bedeutung für den Tourismus

Um jetzt die Überleitung zu mehr praxisorientierten Anwendungen zu machen ist es wichtig zu verstehen, dass auch die traditionellen Nachhaltigkeitsbemühungen sehr wichtig sind und es nach wie vor bleiben werden. Sie sind eine gute Ausgangslage und Basis, um darauf mit den regenerativen Ideen aufzubauen. Zudem helfen sie schon jetzt, alle betroffenen Stakeholder zu sensibilisieren und die Umwelt zu schützen. Das Handbuch zur Nachhaltigkeit in Schweizer Tourismusdestinationen[7] zum Beispiel bietet hier eine wertvolle Grundlage. Die konsequente Umsetzung dessen, ergänzt mit einer regenerativen Weltanschauung, würde die Schweiz zu einer mehr als nachhaltigen Musterdestination machen. Die folgenden Punkte beleuchten einige Bereiche, in denen sich ein regenerativer Ansatz auf branchenspezifische Themen anwenden lässt.

  • Die menschliche Beziehung und Begegnung ist ein Grundpfeiler der Regeneration und gleichzeitig auch die Essenz der Gastfreundschaft. Dass diese mit dem Massentourismus, vermehrt in den Hintergrund gerückt ist, ist bekannt. Gleichzeitig würden sich wohl alle im Tourismus arbeitenden Personen wünschen, mehr Zeit für ihre Gäste zu haben. Der oft befürchtete Verlust von Arbeitsplätzen, bedingt durch Automatisierung und künstliche Intelligenz, wird klassische Gastgeberberufe relativ wenig betreffen. Wenn man sich die vielzitierte Liste des WEF mit den ´Top 15 Skills for 2025´[8] anschaut, wird klar, dass fast die Hälfte davon typische Gastgeber- und Dienstleistungsfähigkeiten sind (z.B. Service Orientierung, Flexibilität, Troubleshooting und Kunden Erfahrung, Kreativität und Originalität). Es lohnt sich also, sich auf klassische Gasgeberqualitäten zu besinnen, denn so können Lebensqualität und Lebensfreude vermittelt werden.
  • Gleichzeitig dürfen aber die Arbeitsbedingungen in der Branche nicht vergessen werden, diese können auch ohne Lohnerhöhungen attraktiver gestaltet werden. Eine regenerative Personalpolitik kann viel zur Verbesserung des Arbeitsklimas beitragen, indem sie die Angestellten in einer ganzheitlichen Betrachtungsweise nicht nur als Ressourcen wahrnimmt. Die meisten der oben erwähnten Skills brauchen keine akademische Ausbildung, sondern emotionale Intelligenz und diese kann trainiert werden. Somit ist die Sensibilisierung und Beteiligung der Angestellten ein wichtiger Punkt.
  • Auch den sich verändernden Gästebedürfnissen muss Rechnung getragen werden, denn für die Generation Y und vor allem für die Generation Z ist Nachhaltigkeit eine Priorität, vor allem beim Kaufentscheid. Die Generation Z ist mit weltweit über 30% Bevölkerungsanteil die wichtigste Gruppe und stellt zusammen mit der Generation Y 62% der Weltbevölkerung! Diese Generationen haben vermehrt ein anderes Verständnis darüber, was eine tolle Reiseerfahrung ausmacht und was sie erleben wollen. Sie sind zwar mit Hi-Tech aufgewachsen, wollen aber zusätzlich Hi-Touch-Erlebnisse, also solche, die auch emotional berühren. Dabei ist die aktive Mitgestaltung ein wichtiger Teil. Eine Generation, die mit den Prinzipien der ´Sharing-Economy´ aufwächst, will nicht nur bedient werden, sondern selber Teil der ´Experience´ sein. Dafür müssen aber passende Formate und Räume geschaffen werden. Es gilt, auch die Destination und die Bevölkerung einzubeziehen und innovative Kooperationen zu schaffen.
  • In der Schweiz hat sich das Toggenburg bereits dem ´Resonanz-Tourismus´ verschrieben, ein Konzept, welches der Regeneration in vielem sehr ähnlich ist, vor allem Punkto Gästeerlebnis. Da diese Generation auch mit einem neuen Verständnis von Konsum aufwächst, stossen hybride Geschäftsmodelle auf mehr Interesse. Eine Vermischung von klassischen Geschäftsfeldern, Lebensbereichen und gemischten Nutzungen von Infrastruktur oder kreativen Umnutzungen ist für sie natürlich und kein Widerspruch. Sie brauchen und gestalten neue Lebensräume[9], die interaktiv sind, Bestehendes neu kombinieren und Neues integrieren.
  • Der Tourismus hat eine wichtige Funktion an den Schnittstellen zwischen vielen anderen Industriezweigen. Obschon strukturell kleinteilig und hauptsächlich aus KMUs bestehend, entstehen entlang der typischen Wertschöpfungsketten viele Möglichkeiten, wo der Tourismus Einfluss nehmen und ein nachhaltigeres oder regeneratives Verhalten fördern kann (z.B. Transport, Bau von Infrastruktur, Energiegewinnung, Nahrungsmittelproduktion, etc.). Angelehnt an das Konzept der ‚Circular Economy’ (Zirkulärwirtschaft)[10] muss man sich bewusst sein, dass viele der Emissionen, die durch eine Übernachtung entstehen, externalisiert werden. Das bedeutet, dass sie vor, nach, oder zum Teil auch während des Aufenthalts passieren und nicht direkt vom Betrieb oder der Destination kompensiert werden. Es ist deshalb ein ganzheitliches Verständnis gefordert, welches die ganze Wertschöpfungskette berücksichtigt.

Touristische Akteure haben zudem eine entscheidende Rolle im regionalen Ökosystem, die weit über einen einzelnen Betrieb hinausgehen kann. Der Profit sollte nicht das alleinige Ziel sein, das Wohlergehen von Ort und Menschen muss ebenso Ziel des Unternehmens sein. Dazu müssen in den Wertschöpfungsmodellen nicht nur quantitative und monetäre Kennzahlen berücksichtigt werden, sondern auch die, nicht so einfach zu messenden, qualitativen Kriterien.

  • Lebensqualität hat mehr mit Gemeinwohl als mit materiellem Wohlstand zu tun; jedenfalls führt ein Fokus auf das Gemeinwohl eher zu mehr Wohlstand als umgekehrt. Um mehr Gemeinwohl zu schaffen hilft auch ein Zeithorizont, der auf längerfristige Ziele ausgerichtet ist: Bei Entscheidungen, die auf Kurzfristigkeit abzielen, wird oft das ´Big Picture´ vernachlässigt. Um eine längerfristige Strategie zu definieren, ist die Rolle der Destinationen, Tourismus-Marketingorganisationen und anderen touristischen Organen nicht zu unterschätzen. Sie können dort Hilfestellung bieten, wo es darum geht, unterstützende Strukturen für die einzelnen Betriebe zu schaffen.
  • Vor allem bei den jüngeren Generationen ist die Authentizität sehr wichtig, sei es in der Angebotsgestaltung als auch in der Kommunikation oder — wie man heute eher sagt — beim ´Storytelling´. Um wirklich authentisch wahrgenommen zu werden, müssen gewisse Werte vom ganzen Team getragen werden. Hier sind die Schulung und Sensibilisierung sehr wichtig. Nur wenn die Angestellten wirklich verstehen, warum sich der Betrieb auf eine gewisse Weise positioniert, können sie dies mittragen und glaubwürdig vermitteln. Möchte man an einer regenerativen Positionierung arbeiten, fängt man am besten bei einem Thema an, das einem selber am Herzen liegt und weitet dann den Wirkungskreis aus. Als Inspirationsquelle und als Hilfe zum Gewinnen einer Übersicht über die relevanten Wirkungsfelder können die 17 ‚Sustainable Development Goals’ (SDGs) der Vereinten Nationen als Inspiration benutzt werden[11].

Inspiration für die Zukunft

Die Pandemie ist zwar eine grosse Herausforderung, könnte aber auch eine Chance sein, wenn die Gelegenheit genutzt wird, um den Tourismus im Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Veränderungen neu zu denken. Ist es denn wirklich wünschenswert, zu den Rekordzahlen von 2019 zurückzukehren oder geht es vielleicht auch anders[12]? Die regenerativen Ansätze können ein neues Verständnis für den Tourismus fördern und spannende Impulse geben. Wenn man diese neue Denkweise einmal integriert hat oder sich von ihr inspirieren lässt, werden Entscheidungen, die nun getroffen, vielleicht anders, sprich regenerativer, ausfallen.

© www.atma.life

Die Grafik bildet die regenerativen Kernelemente ab und verbindet sie mit Vorschlägen zur praktischen Umsetzung.

Im einem nächsten Artikel werden konkrete Beispiele von regenerativen Projekten und Erfahrungen aus der Praxis aufgegriffen. Weitere Artikel (in Englisch) des Autors findet man auf seiner Website: www.atma.life

[1] Netto-Null bedeutet, dass unter dem Strich keine Treibhausgase mehr produziert werden. Alle durch Menschen verursachten Treibhausgas-​Emissionen müssen durch Reduktionsmassnahmen wieder aus der Atmosphäre entfernt werden und somit die Klimabilanz der Erde netto, also nach den Abzügen durch natürliche und künstliche Senken, Null beträgt.

[2] https://www.srf.ch/news/international/uno-nachhaltigkeitsgipfel-agenda-2030-das-groesste-projekt-der-uno-droht-zu-scheitern

[3] https://www.psychologie-aktuell.com/news/aktuelle-news-psychologie/news-lesen/klimawandel-wie-wir-schuld-auf-uns-laden-und-tatkraeftig-verdraengen.html?fbclid=IwAR0_xuoVAzjH79goglEU2xEXMdilTp11qOs55wEzQZIpWHFWQ3FiGg410w0

[4] https://regeneration.org Buch von Paul Hawken, wo er dutzende Möglichkeiten präsentiert, um die Klimakrise mit natürlichen Massnahmen in einer Generation zu lösen.

[5] Ganzheitlich: die Betrachtung einer Sache in der systemischen Vollständigkeit aller Teile sowie in der Gesamtheit ihrer Eigenschaften und Beziehungen untereinander. Systemisches Denken lenkt den Blick vom linear-analytischen Denkstil auf eine ganzheitliche Sicht. Anstelle Ausschnitte der Wirklichkeit zu isolieren, fokussiert es auf komplexe Zusammenhänge und Wechselwirkungen.

[6]https://www.oneplanetnetwork.org/sites/default/files/202111/GlasgowDeclaration_EN_0.pdf

[7] https://www.zhaw.ch/de/ueber-uns/aktuell/news/detailansicht-news/event-news/nachhaltigkeit-in-schweizer-tourismusdestinationen/

[8] https://www3.weforum.org/docs/WEF_Future_of_Jobs_2020.pdf (Seite 36)

[9] https://www.htr.ch/story/tourismus/toggenburg-verschreibt-sich-dem-resonanz-tourismus-30532.html

[9] https://www.realizingprogress.com/wp-content/uploads/2021/08/1608-RealizingProgress-impulse4travel-Map.png

[10] https://www.oneplanetnetwork.org/knowledge-centre/resources/circular-economy-travel-and-tourism-white-paper

[11] https://tourism4sdgs.org/act/companies/

[12] https://www.travelnews.ch/tourismuswelt/20310-so-sieht-die-zukunft-des-tourismus-aus.html

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Martin Hohn

Working at the intersection of placemaking and social innovation -creating spaces that prototype a regenerative paradigm